(Letzte Bearbeitung / last updated on 02/10/2024)
Brief von Alice Liebmann an Ernst Koch vom 21. September 1920. / Letter from Alice Liebmann to Ernst Koch on September 21, 1920.
↓ Transkription / Transcription
Lieber Ernst!
Als ich deine so überaus prompte Antwort erhielt, musste ich wirklich herzlich lachen. Natürlich denkst Du vermöge Deiner Einbildungskraft, es sei nur die Freude, die meine Lachmuskeln zeigten. Nein, es schien mir nur, als ob wir uns gegenseitig an Pünktlichkeit gleich in einem Jahr übertreffen wollten, sei es nun, um Versäumtes nachzuholen oder weil wir gerade mal Lust hatten zu schreiben, ich will es nicht untersuchen, ist ja auch wurstegal. Auf jeden Fall bewies mir die ganze Geschichte, dass ich meinen hochwohllöblichen Vetter Ernst doch ziemlich richtig eingeschätzt habe. Du kannst wie jeder andere Sterbliche immer eine bisschen Zeit finden, um an so ein kleines Kusinchen, wie ich es bin, zu schreiben. Wenn Du das im Trubel von Berlin kannst, wird es auch in Offenbach mit eine bisschen guten Willen die ganze Zeit hergegangen sein. Weißt Du, ich war Dir nicht böse wegen Deines Schweigens, absolut nicht. Denn da musste ich Dir ja auch nicht antworten. Ich will Dir nur damit beweisen, dass Deine Entschuldigungen wegen Mangel an Zeit es ein bisschen Mumpitz waren. Also wie gesagt, ich bin nicht beleidigt, sonst hätte ich Dir ja nicht schon wieder geschrieben, aber sagen wollte ich Dir’s doch, wie die Sache steht. Jetzt darfst Du aber nicht den Spieß herumdrehen und den Gekränkten spielen, denn das wäre … kleinlich, langweilig u. was alles noch. Gestern war ich auf dem Alzeyer Sommermarkt. Es war sehr nett. Nur ist mir es heute noch ganz kribbelkrabbelig von dem entsetzlich vielen Karussellfahren. Eigentlich ist’s ja ein großer Blödsinn – aber schön war’s doch. Von mir wüsste ich wirklich zu wenig Neues. In den letzten Wochen habe ich sehr fleißig für die Schule geschuftet. Hoffentlich wird meine Arbeit am Samstag … mit Erfolg gekrönt. Sehr im Zweifel liegt es ja noch, denn in ein paar Wochen kann man, in der Schule wenigstens, nicht gut machen, was man in Monaten versäumt hat. Alles rächt sich einmal auf Erden. Ich schrieb Dir ja schon, dass Elly weg ist. Sie fehlt mir an allen Ecken und Enden. Wir führen eine sehr enge Korrespondenz, diese kann mir aber ihre Gegenwart nur sehr mangelhaft ersetzen. Um Deinen Aufenthalt in Berlin beneide ich Dich tatsächlich. Falls zu Dich mal wieder nach Alzey verirren solltest und noch den Weg in unser Haus findest, dann darfst du mir ausführlich von den Wundern der Hauptstadt erzählen. Bis zur Frankfurter Messe wirst du wohl wieder zurück sein. Jedenfalls bin ich in dieser Woche auch in der schönen Stadt am Main. Auf Dein erstauntes Gesicht, wenn wir uns vielleicht begegnen sollten, freu ich mich schon.
Dear Ernst!
When I received your extremely prompt reply, I really had to laugh heartily. Of course, due to your imagination, you think it was only the joy that my laughing muscles showed. No, it just seemed to me as if we wanted to outdo each other in punctuality in the same year, whether it was to catch up on what we had missed or because we just felt like writing, I don’t want to investigate, it doesn’t matter. In any case, the whole story proved to me that I had judged my esteemed cousin Ernst quite correctly. Like any other mortal, you can always find a little time to write to a little cousin like me. If you can do that in the hustle and bustle of Berlin, you’ll be able to do it all the time in Offenbach with a bit of good will. You know, I wasn’t angry with you for your silence, absolutely not. Because I didn’t have to answer you. I just wanted to prove to you that your excuses about lack of time were a bit garbage. As I said, I’m not offended, otherwise I wouldn’t have written to you again, but I wanted to tell you how things stand. But now you mustn’t turn the tables and play the offended party, because that would be … petty, boring and whatnot. Yesterday I was at the Alzeyer summer market. It was very nice. But I’m still tingling today from all the horrible carousel rides. It’s actually a lot of nonsense – but it was nice. I really don’t know enough new things about myself. I’ve been working very hard for school over the last few weeks. Hopefully my work on Saturday … will be crowned with success. It’s still very much in doubt, because in a few weeks, at least at school, you can’t make up for what you’ve missed in months. Everything takes its revenge once on earth. I’ve already told you that Elly is gone. I miss her everywhere. We keep up a very close correspondence, but this can only replace her presence to a very limited extent. I really envy you for your stay in Berlin. If you ever get lost in Alzey again and find your way into our house, you can tell me all about the wonders of the capital. You’ll probably be back by the Frankfurt trade fair. In any case, I’ll also be in the beautiful city on the Main this week. I’m already looking forward to seeing your astonished face when we meet.
Alice
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